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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783630871400
Sprache: Deutsch
Umfang: 224 S.
Format (T/L/B): 2 x 21 x 12.5 cm
Einband: gebundenes Buch

Beschreibung

Mendel Adenauer kommt aus einer Familie assimilierter Juden, die in der niederländischen Kleinstadt E. angesehene Bürger waren. Bis sie plötzlich den umgekehrten Weg ihrer Ahnen gehen mußten und nach Osten deportiert wurden. Seine Großeltern und seine Mutter überleben den Holocaust und kehren nach E. zurück, aber ihr Vertrauen in die europäische Zivilisation ist erschüttert. Nie mehr werden sie vergessen, daß sie anders sindals die anderen. Mendel, 1957 geboren, wächst mit all den Geschichten seiner Familie auf, und er hält instinktiv Distanz - Distanz zum Judentum, der Welt, aus der er herkommt, und Distanz zum Christentum, der Welt, die ihn umgibt. Dann, im Abiturjahr, verliert er seine ganze Familie. Die Großeltern sterben kurz nacheinander, die Mutter wandert nach Israel aus und fährt dort mit dem Jeep auf eine Mine. "Wir sind wie die Dinosaurier. Wir sterben auf einen Schlag aus", sagt er einmal. Als auch noch sein bester Freund nach England geht, entfernt sich der Außenseiter Mendel zusehends von der realen Welt. Er streift nächtelang über die Felder und durch die Wälder vor der Stadt, überläßt sich seinen Erinnerungen und Träumen, wird von Halluzinationen heimgesucht. Nur Anna ist ihm noch geblieben, seine große Liebe; sie ist die Tochter eines adligen Großgrundbesitzers, der im Krieg "auf der falschen Seite" stand. Bei ihr sucht er Zuflucht, während die Stimmen und Geschichten in ihm immer lauter werden.

Leseprobe

'Das ist ein sehr schöner Chablis', sagt Wessel. Er beugt sich über die Armlehne seines Sessels, hebt die Flasche aus dem beschlagenen Kühler und gießt eine kleine Weinpfütze neben Mendels Glas. Er legt seine Füße auf die Fensterbank. Ein schwaches Lüftchen geht durch das Gestrüpp am Bahndamm, in der Ferne ächzt ein Zug. 'Das', sagt er, 'ist das Leben.'
Der Sommer ist ein Meer. Er geht nicht weg, er zieht sich in sich selbst zurück. An den verdorrten Sträuchern am Bahndamm hängen noch immer Brombeeren, bizarr und schwarz wie Tropfen geronnenen Bluts, und auf dem geklinkerten Weg zwischen den Häusern und dem Damm wispert Laub im Abendwind. Die Luft, die sacht durch die offenen Fenster hereinweht, ist schwer und süß, und die Vögel singen, als wollten sie das Hereinbrechen des Abends aufhalten, damit es ewig dämmrig bleibt, der Himmel für immer indigoblau, alles voll Erwartung. Aber es ist September, zwar ein September wie August, aber September.
Abend für Abend sitzen sie am Fenster, in den beiden einzigen Sesseln, die Mendel im Haus gelassen hat. Sie reden, sie trinken, sie hören Radio, lauschen dem Geheul und Geknarze aus fernen Ländern. Manchmal ziehen sie sich nachts ihre Mäntel an und gehen hinaus. Dann marschieren sie den Ring entlang durch die Stadt, eine Flasche Wein in der Hand, aus der sie abwechselnd trinken, bis sie auf den Feldern außerhalb der Stadt sind, trunkener vor Erwartung als vom Wein. Dort draußen streifen sie die ganze Nacht umher. Sie erschrecken vor den Wacholdersträuchern auf der Heide, sie schauen einer Eule nach, die dicht über einen Bauernhof streicht, sie sitzen auf einem Grabhügel am Rand eines Birkenwäldchens und blicken über das dunkle Land.
Doch an diesem Abend sitzen sie am offenen Fenster, schweigend. Sie starren ins Dunkel und lassen sich vom Weißwein wiegen, der in einem Kühler zwischen den Sesseln steht.
'Ein falscher Schritt', hat Mendel vor einer Weile gesagt, 'ein falsches Wort, und alles ist weg, The Piper at the Gates of Dawn, Abende, an denen es neunzehnhundertachtzig und gleichzeitig neunzehnhundertfünfzig ist. Eine Bewegung, und alles ist anders.' Was er eigentlich sagen (oder, besser noch, singen) wollte, war: Mein junges Leben hat ein End. Denn so scheint es: Die geheimnisvollen Jahre sind vorbei, in wenigen Tagen geht Wessel nach England. Mein junges Leben hat ein End, wollte er sagen und, wenn er das Pathos dieser Worte nicht gescheut hätte: Hier ist das Dämmerland durchquert, hier weicht der Nebel, hier verläßt Le Chevalier Mal Fet den verzauberten Wald. Das wollte er sagen, aber er schweigt. Er lauscht dem Rauschen des leeren Hauses und trinkt seinen Wein.
'Leer', sagt er. Er hält das Glas vor sich und dreht es am Stiel herum. 'Mein Glas wurde vollgeschenkt und ist nun leer. Ich vermehre keinen Wein, ich teile ihn.
Teilen im Sinn von Verringern', sagt er, während Wessel aufsteht und im leeren Haus verschwindet. 'Ein umgekehrter Messias.' Er schaut hinaus und lauscht in die Nacht. In dem vom Fenster eingerahmten Dunkel flackern die Fragmente des Traums, den er schon seit einigen Monaten träumt. Er liegt unter einem klaren schwarzen Himmel, in einer warmen Nacht, auf einer endlosen Sandfläche, über ihm ein großer Mond. Er steht auf und blickt sich um. In der Ferne ist eine Oase, ein runder Teich, über den sich drei Palmen beugen. Er geht dorthin, langsam, argwöhnisch, aber als er näher kommt und die Bäume und der Teich nicht verschwinden, rennt er, bis er ins laue Wasser fällt. Er trinkt, als hätte er seit Tagen nicht getrunken. Süßwasser strömt in ihn. Süßwasser strudelt wie ein Fluß durch seinen Körper. Wasser, süß wie Soße. Er läßt sich fallen. In seinen Ohren saust es, sein Körper erschlafft. Er bleibt so lange unter Wasser, daß er sich kurz fragt, wie es kommt, daß er nicht ertrinkt. Dann richtet er sich auf und schüttelt den Kopf. Er blickt sich um. Der Sand ist im Mondlicht eine bronzene Palette, gebrochen v ...

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